Gedenkansprache zur Totenehrung

Am Samstagabend hielt der zweite Chef der Bruderschaft, Andreas Preuß, bei der Totenehrung am Ehrenmal auf der Drupnas die Gedenkansprache. Auf Wunsch vieler Schützen veröffentlicht die Internetredaktion die Ansprache hier im Wortlaut:

„Liebe Schützenbrüder, lieber Präses Dechant Zervosen, liebe Lintorfer und liebe Gäste,

wir feiern in diesen Tagen das 550-jährige Bestehen unserer Bruderschaft. Eine lange, für uns als einzelner Mensch vielleicht eine unvorstellbar lange Zeit. 550 Jahre sind beinahe 20 Generationen. Tatsächlich hatte die Bruderschaft in diesen fünfeinhalb Jahrhunderten viele Höhen und Tiefen.

Doch was ist seit der Gründung 1464 alles geschehen:
nur wenige Jahre nach der Gründung entdeckte Columbus den amerikanischen Kontinent,
Martin Luther wollte die katholische Kirche reformieren und wurde Gründer einer neuen Kirche,
in Mitteleuropa wurden zehntausende Frauen und Männer als Hexen und Zauberer verbrannt,
im 30-jährigen Krieg verwüsteten die Truppen der unterschiedlichsten Mächte Deutschland völlig,
Napoleon machte dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation nach 900 Jahren ein Ende,
Deutschland wandelte sich von einem Agrarland in eine der führenden Industrienationen der Welt, auch unser kleines beschauliche Lintorf,
in neuen Kriegen einten die Preußen das in Kleinstaaten zerfallene Land,
genau heute vor 100 Jahren befand sich Deutschland seit gut zwei Wochen erneut im Krieg. Er sollte vier Jahre dauern und in Europa viel Leid und Unrecht verursachen.

All dies hat die Bruderschaft überlebt und überdauert. Mehr oder weniger!

Vor fast 80 Jahren aber stand unsere Bruderschaft am Abgrund. Die Mitglieder beschlossen 1936 während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland, die Bruderschaft aufzulösen. Es schien ein Tiefpunkt der langen Bruderschaftsgeschichte zu sein. Oder noch schlimmer: Es schien das endgültige Aus unserer Gemeinschaft nach damals immerhin auch schon 472 Jahren zu sein.

Heute wissen wir: Es war kein Tiefpunkt in der Geschichte unserer Bruderschaft. Es war vielleicht sogar einer der Höhepunkte in diesem wechselvollen Auf und Ab. Unsere Vorgänger in der Bruderschaft gaben lieber eine Jahrhunderte alte, geliebte Tradition auf, statt sich durch die nationalsozialistische Ideologie verbiegen zu lassen, statt ihre christlichen Ideale einer völkischen, oder besser, einer menschenverachtenden Ideologie zu opfern. Dafür gebührt ihnen noch heute unser aller Respekt, unser größter Respekt.

Die freiwillige Auflösung gab den Lintorfern nach der Befreiung durch die allierten Truppen die Gelegenheit zu einem von der Vergangenheit unbelasteten Neuanfang im Schützenwesen.

Am 25. Januar 1948 trafen sich 27 Lintorfer Männer und begründeten die Bruderschaft nach dem Krieg neu. Ohne diese 27 Lintorfer wäre die Bruderschaft längst Vergangenheit. Wir hätten in diesen Tagen nichts zu feiern. Zwei dieser 27 Gründerväter sind noch heute in unserer Bruderschaft. Einer von den beiden ist heute Abend hier unter uns: unser Ehrenchef Hans Lumer.

Die Bruderschaft nahm in den 1950er Jahren einen rasanten Aufschwung. Die Mitgliederzahl wuchs schnell. 1950 wurde die Tell-Kompanie wiederbegründet. Sie hatte sich ebenfalls 1936 selbst aufgelöst. Wenige Wochen später entstand im Busch die Hubertus-Kompanie. Im Laufe der nächsten Jahre folgten das Tambourcorps, das Reitercorps, das Jäger-Korps und das Prinz-Eugen Corps. Das Andreas-Hofer Korps, das St. Georgs Corps, das Stammcorps, das St. Lambertuscorps und das Tambourcorps Reserve folgten später.

In den 50er und 60er Jahren waren die Königsfeste der Bruderschaft und die Familienfeste der Tell-Kompanie feste Bestandteile des Lintorfer Veranstaltungskalenders. Feste, die vom halben Dorf besucht wurden. Die Schützen waren ein sehr wichtiger Bestandteil unserer dörflichen Gemeinschaft. Man war stolz, wenn man dazu gehörte. Das Schützenzelt war an allen Tagen überfüllt, auf der Kirmes, ob Schützenfest oder Fronleichnam, musste man an den Fahrgeschäften oder Kirmesbuden anstehen. Ein Kirmesbesuch mit Kirmesgeld von der Oma oder der Tante war ein Erlebnis für jeden Dreikäsehoch.

Die wiederbegründete St. Sebastianus Schützenbruderschaft Lintorf war eine einzige Erfolgsgeschichte.

Irgendwann aber gab es einen Knick. Irgendwann geriet die Erfolgsgeschichte ins Stocken. Irgendwann ging es bergab.

Lag es an der Kritik der 68er an allem Traditionellem, an allem Althergebrachten?

War es der Verlust, die Diskreditierung von Werten wie Glaube, Sitte und Heimat?

War es das Fernsehen, waren es andere Freizeitmöglichkeiten?

War es die Tendenz der Gesellschaft, das Individuum in den Mittelpunkt zu stellen?

Verlor die Bruderschaft den Anschluss an die moderne Zeit?

Vermutlich ist für die Krise des Schützenwesens nicht einer dieser Gründe alleine verantwortlich. Wahrscheinlich haben sie alle ihren Teil dazu beigetragen.

Und wir Schützen selbst, sind wir vollkommen unschuldig an dem Niedergang der letzten Jahrzehnte?

Zuerst haben wir es gar nicht bemerkt, dass wir aus der Mitte der Dorfgemeinschaft an deren Rand gedrängt wurden. Als wir es bemerkten, haben wir den Kopf in den Sand gesteckt und gedacht: Es wird schon vorübergehen. Und als es nicht verüberging, wurden wir ein wenig trotzig.

Statt uns zu fragen, wie wir zum Beispiel die Fronleichnamskirmes attraktiver gestalten können, haben wir sie erst verkürzt und dann gestrichen.

Statt Neues zu wagen, werden neue Ideen solange diskutiert und auseinandergenommen, bis sie nicht mehr mehrheitsfähig sind.

Sicher, mit 550 Jahren ist die Bruderschaft aus dem Alter heraus, wo man im jugendlichen Leichtsinn einfach etwas macht und erst im Nachhinein überlegt, ob es sinnvoll war. Man ist vermutlich aus dem Alter heraus, in dem man Niederlagen und Misserfolge mit einem Achselzucken hinnimmt und einfach das nächste Experiment wagt.

Aber, so werden viele sagen, war denn alles schlecht, was in den letzten 50, 60 Jahren gemacht wurde?

Die Antwort ist einfach: Nein, es war nicht alles schlecht. Ganz im Gegenteil: zu seiner Zeit war das meiste richtig und gut. Doch die Zeit ist weitergegangen. Und mit der Zeit haben sich die Menschen verändert.

Allerdings: Glaube, Sitte, Heimat sind Werte und Prinzipien, die nicht dem Zeitgeist unterliegen können. Sie sind Grundlagen unserer Gemeinschaft. Aber auch Grundlagen unterliegen im Laufe der Jahrzehnte einem Wandel. Auch Grundlagen müssen hinterfragt werden dürfen und, wenn es notwendig ist, auch angepasst werden müssen.

Aber manches in den vergangenen Jahrzehnten Liebgewonnene hat überhaupt nichts mit Werten zu tun. Es sind einfach Traditionen, nach dem Motto: Das haben wir immer schon so gemacht.

Liebgewonnenes, dass Draußen, außerhalb unserer Bruderschaft nicht als Tradition wahrgenommen wird, sondern als Ballast, als Überkommenes, als Unzeitgemäßes.

Es wäre schön, wenn in 50 Jahren anlässlich der Feiern zum 600-jährigen Bestehen der St. Sebastianus Schützenbruderschaft Lintorf ein Schütze hier stünde und sagen würde: Die Bruderschaft stand vor einem halben Jahrhundert vor vielleicht dem wichtigsten Wendepunkt ihrer Geschichte. Es gab mutige Mitglieder, die die richtigen Entscheidungen getroffen und der Bruderschaft eine Zukunft gegeben haben. Ohne sie stünden wir heute Abend nicht hier am Ehrenmal auf der Drupnas, ohne sie hätten wir nichts zu feiern.

Liebe Schützenbrüder, liebe Lintorfer und liebe Gäste,

wir sind heute hier am Ehrenmal auf der Drupnas zusammengekommen, um unserer im vergangenen Schützenjahr verstorbenen Kameraden zu gedenken.
Am 15. April dieses Jahres verstarb Andreas Schmidt vom St. Lambertuscorps und am 18. April Theo Fink vom Stammcorps.
Schließen wir in unser Gedenken all unsere Kameraden ein, die seit der Gründung unserer Bruderschaft vor jetzt 550 Jahren verstorben sind, auch wenn wir ihre Namen nicht mehr kennen.“